Stephanie Hirschvogel

Sozialistischer Zionismus

Untersucht man die soziografischen Ordnungsprinzipien der ehemals von europäischen Einwanderern in Palästina zu Anfang des 20. Jahrhunderts gegründeten Kibbuzim, findet man wider Erwarten radikal moderne Städte. Die Kibbuz-Bewegungen unterschieden sich ideologisch darin, dass sie «unterschiedlichen Gesellschaftskonzepten anhingen, die auf Formen des Sozialismus und seiner Auslegung durch unterschiedliche jüdische Gelehrte und Philosophen beruhten.»1 So stellt das folgende Zitat des Mitbegründers und Sprechers der Kibbuz-Hameuchad-Bewegung, Yitzhak Tabenkin, den revolutionären Anspruch dieser Siedlungsform, die weder Stadt noch Dorf sein sollte, wie folgt dar: «Die Stadt, wie auch das Dorf, sind vorübergehende Formen, und ein neuer Typus Siedlung entwickelt sich in der Zukunft: Weder Stadt noch Dorf, aber etwas aus beidem.»2 Der Ursprung dieser Gedanken geht auf das Kommunistische Manifest von Marx und Engels zurück, deren Ideale von den vorwiegend aus Osteuropa und Russland stammenden Immigranten der ersten Alijah nach Eretz Israel getragen wurden. «Gerade die kapitalistische Gesellschaft mit all ihren Widersprüchen kann nicht fortfahren zu existieren, wie sie ist, folglich können auch die Stadt und das Dorf nicht fortfahren zu existieren, wie sie heute sind. Der Kontrast zwischen ihnen ist wie der Kontrast zwischen der gesellschaftlichen Klasse, wie der Kontrast zwischen körperlicher Arbeit und intellektueller Arbeit, etc.»3 Ist es einer «sowohl ländlichen, als auch urbanen Gemeinschaft, einer Mischung aus Neuem und Altem» vor 100 Jahren gelungen, eine nicht erwartete, radikal moderne Stadt mit diesen sozialistischen Idealen zu errichten?»4 «Was soll in unseren Siedlungen gebaut werden, und wie soll es gebaut werden?»5 Wurden die ehemaligen Bauhaus-Schüler, die aus Europa nach Palästina immigriert waren, dieser Aufgabe als Stadtplaner, Architekten und Menschen gerecht? Wie konnten sie die programmatischen Aufgaben lösen und Siedlungen für eine moderne Gesellschaft planen?


Kibbuz Maabarot, 1946. © Zoltan Kluger, Government Press Office. Gruppe von Kibbuznikim beim Bauen eines Hauses

 

Kibbuz-Raumplanung von Arieh Sharon

Das Wesensmerkmal der Kibbuz-Planung fußt auf der Grundlage der Beziehung zwischen Privatem und Kollektivem als größeres System. Arieh Sharon hat in der Zeit von 1938 bis 1949 fünf Gesamtplanungen für Kibbuzim erstellt und in vielen weiteren die Einrichtungen der Schulen, Speisesäle und Kindergärten geplant. Arieh Sharons Entwürfe für die Kibbuz-Modelle «zeigten eine neue Denkweise in Bezug auf formale und physische Beziehungen und bestimmen auch die Arbeitsweise für die Kibbuzim: Sie versuchten immer, zuerst die soziale Organisation abzubilden und Entwürfe zu erstellen, die dann in physische Beziehungen übersetzt werden konnten.»6 Der Flächennutzungsplan von Arieh Sharon für den Kvutza Ein Hashofet gliedert die Kibbuz-Siedlung in verschiedene Funktionen: In der Mitte sind die kommunalen Einrichtungen wie Speisehalle, Kultur- und Nutzgebäude. Die ringförmig um die Mitte angelegten Zonen dienen als Wohngebiet für die Mitglieder. Die Kinderhäuser und Schulen sind in die Felder zwischen den Wohnhäusern eingebettet. Landwirtschaftliche Gebäude, Werkstätten und Lagerhallen werden hinter den kommunalen Einrichtungen platziert; sie werden durch Grünflächen abgetrennt. Die Flexibilität und damit der stete Wandel sind möglich, da es nur Gemeineigentum gibt, aber kein Privateigentum. Die Planungsmechanismen wurden gesamtheitlich verabschiedet. «Da es keinerlei Teilungen gab – es gab keine Parzellen für öffentliche Bauwerke, Wohngebäude oder Industriebauten – konnte der Kibbuznik über die Flächennutzung selbst entscheiden.»7 So wurde die Kibbuz-Architektur ein generationsübergreifender Erfolg, da das Konzept auf Anpassungsfähigkeit und Flexibilität beruht.


Kibbuz Mechavia, 1930. © Stiftung Bauhaus Dessau. Speisesaal, Architekt: Richard Kauffmann

 

Kibbuz heute

«Seit 1910 sind 280 Kibbuzim in Eretz Israel gebildet worden – in der Halbwüste Negev, im Hügelland, auf der Küstenebene»8 Doch heute befindet sich die Kibbuz-Bewegung in einer Krisensituation. Von den noch aktiven 173 Kibbuzim wurden bereits mehr als die Hälfte privatisiert. Trotz der zunehmenden Privatisierung der Kibbuzim profitiert das Land noch immer von der Produktivität der Genosssenschaftssiedlungen. Heute stellen die Kibbuzim laut Elsohn «55 Prozent des Rindfleischs im Land, 50 Prozent des Geflügels und 18 Prozent der landwirtschaftlichen Produkte.»9 Aufgrund der politischen Instrumente der israelischen Raumordnung werden «die einst von den Linken erfundenen territorialen Manöver heute vom extremen rechten Lager verwendet.»10 Die israelische Siedlungspolitik beruht auf den Konzepten der zentralisierten Raumplanung und bewirkt in ihrer Landrücknahme, dass «das politische, kulturelle und ökonomische Gleichgewicht von der Stadt auf das Land und vom Zentrum auf die Peripherie»11 verschoben wird. Es ist ein schwieriges Unterfangen, in dem sich die Kibbuzim heute befinden. Eine globalisierte Welt fordert eine weit differenziertere Gemeinschaft, deren Ideale sich mit der kapitalistischen Gesellschaft vermischen dürfen. Dennoch darf man nicht sorgenlos zusehen wie die politischen Instrumente sich bedingungslos daran bedienen können. Dafür kann die Weiterentwicklung der Kibbuzim im urbanen Kontext – wie in Tel Aviv – eine Lösung sein.


 

Urban Kibbuz

Die Urban Kibbuz-Bewegung beinhaltet eine Neuinterpretation und eine Wiederbelebung der Ideale und sozialistischen Prinzipien der ursprünglichen Kibbuz-Idee durch eine junge Generation. Die Herausforderung besteht jetzt darin, eine tragfähige architektonische Form im urbanen Kontext zu finden. Ihr eigen wäre sicher eine stärkere Gewichtung des gemeinsam genutzten Raumes gegenüber dem privaten Wohnraum. Ein Mehrwert könnte sein, die gemeinschaftlichen Einrichtungen inhaltlich neu zu besetzen und dem privaten Wohnraum mehr architektonische Bedeutung zu verleihen. Die Herausforderung besteht hier darin, zu verdichten, ohne dabei den Charakter einer Oase zu verlieren. Die Transformation des Kibbuz im städtischen Kontext ist vom Zionistischen Gedankengut losgelöst. Sie ermöglicht neue Strukturen und neue ­– bis jetzt unbekannte – räumliche Beziehungen. Die Kibbuz-Architektur ist keinem Muster verpflichtet – sie erfand sich in der Entstehungsgeschichte der Alijah neu und sie wird sich wieder neu erfinden müssen.


  1. Bar Or, Galia, im Gespräch mit Bittner, Regina; Möller, Werner: Die Neuerfindung von Utopia, in: Israel, Stiftung Bauhaus Dessau, Ausgabe 2, 2011, S. 26.
  2. Tabenkin, Yitzhak: Organ of the Kibbutz Meuchad, Übersetzung aus dem Hebräischen, Original erschienen in: Mibefnim, 1951, S. 49.
  3. Ebd., S.49.
  4. Vgl. Bar Or 2011, S. 27.
  5. Vgl. Tabenkin 1951, S. 51.
  6. Yasky, Yuval, im Gespräch mit Bittner, Regina; Möller, Werner: Die Neuerfindung von Utopia, in: Israel, Stiftung Bauhaus Dessau, Ausgabe 2, 2011, S. 31.
  7. Ebd., S. 26.
  8. http://www.israelnetz.com/kultur/detailansicht/aktuell/der-kibbutz-zwischen-idealismus-und- zeitgeist/?print=1, (abgerufen am 17. Mai 2012).
  9. Efrat, Zvi: Vortrag am Dept. of Architecture, Bezalel, 2009: http://www.bezalel-architec- ture.com/2009/11/kibbutz-bauhaus (abgerufen am 13. Mai 2012).
  10. Ebd.
  11. Ebd.