Stephanie Hirschvogel

Die Transformation von der Stadtkrone zur Siedlungskrone im Siedlungswerk von Richard Kauffmann

Der deutsch-jüdische Architekt Richard Kauffmann (1887–1958) hat in den 20er-Jahren den modernen Städtebau in Palästina eingeführt. Auch Kauffmanns Entwürfe für seine ländlichen Kommunal- und Genossenschaftssiedlungen die den Gegenstand der Analyse bilden,1 waren deutlich von der europäischen Avantgarde inspiriert, deren städtebauliche Utopien zum Abbild einer neuen, idealen Vorstellung von Gesellschaft wurden. Ein Leitwerk für Kauffmann wurde das avantgardistische Manifest von Bruno Taut (1880–1938): «Die Stadtkrone»2. Der davon abgeleitete Terminus der Siedlungskrone von Kauffmann wurde der Inbegriff einer Idealstadt-ähnlichen Siedlungstypologie im Palästina der 20er-Jahre und der «gebaute Ausdruck des sozialen Gedankens»3 einer neuen jüdischen Gesellschaft. Die Kauffmann‘sche Siedlungskrone konnte jedoch aufgrund der rein ideellen Herleitung ihren praktischen Ansprüchen nicht immer gerecht werden. Es gilt zu klären, weshalb das palästinensische Modell der Stadtkrone unter den vorherrschenden sozialpolitischen und soziokulturellen Rahmenbedingungen nur Utopie blieb. Hierfür ist die Rezeption des späteren Architekturhistorikers Julius Posener (1904–1996) relevant, der sich als einer der ersten kritisch über die Siedlungskrone von Kauffmann äußerte, als er während seines sechsjährigen Exils (1935–1941) als Architekt und Journalist in Palästina lebte.


Schemata von der Auflösung der Städte, aus Bruno Taut: Die Stadtkrone, 1919.

 

Der Stadtkrone-Diskurs

Allein die Ähnlichkeit des siedlungstypologischen Terminus der Kauffmann‘schen Siedlungskrone mit Tauts Stadtkrone dient der wissenschaftlichen Rezeption gemeinhin als Inspirationsquelle. Die Rezeption Poseners ist als Gegenstand der Analyse spannend, weil er vermutlich das schriftliche Werk von Kauffmann gekannt und zugleich das gebaute Werk gesehen hat. Posener sieht in der Siedlungskrone Kauffmanns die Verbindung zur europäischen Avantgarde-Bewegung, die in der Zeit von 1900 bis 1920 in den Künstlerkreisen vorherrschte. In dieser Zeit fanden vor allem ideell geprägte Konzepte einen Zugang in der Architekturdisziplin. Dieser Ansatz prägte die Architekten, die in den 20er-Jahren eine ganzheitliche Planung und Städtebau als umfassende Disziplin anstrebten. Ein Vertreter war der von Posener als «Vater des Expressionismus»4 bezeichnete deutsche Architekt Bruno Taut, dessen Beiträge – in Schrift und Werk – für die avantgardistischen Vertreter der Architekturdisziplin in Europa von großer Bedeutung waren. Unter dem Eindruck der anhaltenden Baukrise, die durch die Rezession nach dem Ersten Weltkrieg verursacht worden war, entwickelte sich daraus eine Architekturbewegung, die Städtebau und Baukunst als eine Kunstform betrachtete. Darüber hinaus stellte Taut in seinem avantgardistischen Manifest «Die Stadtkrone» die Zweckmäßigkeit des Bauens in Frage und formulierte das Ideal von zweckfreien, bekrönten Städten.5 An zentraler Stelle propagierte er eine Stadtkrone «für die neue Stadt nach dem Krieg als geistiges und kulturelles Zentrum»6.


Kfar Nahalal, Fliegerbild, Die Bebauungspläne der Kleinsiedlungen Kfar-Nahalal und Kfar-Jecheskiel von Richard Kauffmann, Architekt. Jerusalem 1923 (Department fuer landwirtschaftliche Kolonisation der zionistischen Exekutive Jerusalem).

 

Die Rezeption Poseners

In den 30er-Jahren publiziert Posener in «Habinyan Bamisrach Hakarov»7, der ersten Architekturzeitschrift Palästinas, einen Essay über die Siedlungen Richard Kauffmanns. Da die Planungsgrundlagen für diese Art Städtebau in Palästina fehlten, verfasste Kauffmann eigens die ersten theoretischen Abhandlungen über den zionistischen Siedlungsbau und widmete sich bereits darin dem Konzept der Siedlungskrone. Hier wird bereits deutlich, dass Posener den Vergleich zwischen der gebauten Realität und dem theoretischen Unterbau Kauffmanns zur Siedlungskrone bezweifelte. Daher lohnt es sich, den Vergleich zwischen Utopie und gebauter Realität des Stadtkrone-Diskurses in Kauffmanns Werk deutlicher herauszuarbeiten.


  1. Kauffmann realisierte zwischen 1921 und 1927 ländliche Genossenschaftssiedlungen (hebr. Moshav Ovdim), Kommunalsiedlungen (hebr. Kvutzah), aber auch Gartenvorstadtsiedlungen.
  2. Taut, Bruno: «Die Stadtkrone», Jena, 1919.
  3. Ebd. S. 79.
  4. Posener, Julius: Vorlesungen zur Geschichte der Neuen Architektur II, in: Die Architektur der Reform (1900–1924), 1980, S. 57.
  5. Vgl. Taut 1919, S. 23.
  6. Schickel, Gabriele: Theodor Fischer als Lehrer der Avantgarde, in: Reform und Tradition: Moderne Architektur 1900–1950, 1992, S. 61.
  7. Posener, Julius: Villages in Palestine, in: Habinyan, A Magazine of Architecture and Town Planning, Nr. 3, 1938, Tel Aviv.